Eltern-Kind-Entfremdung entsteht meist im Zusammenhang mit konflikthaften Trennungen oder Scheidungen, wenn das gemeinsame Kind vorsätzlich oder unbewusst von einem Elternteil gegen den anderen instrumentalisiert wird. Gründe dafür können Verlustangst, Wut, Enttäuschung, Verletzung oder der Wunsch sein, den Expartner weiterhin zu kontrollieren.
Dabei wird dem Kind offen oder unterschwellig vermittelt, der andere Elternteil sei nicht liebenswert, kümmere sich nicht gut um das Kind oder liebe das Kind nicht.
Dies kann ein Kind in so große seelische Not bringen, dass es sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als einen geliebten Elternteil aus seinem Leben auszuschließen.
Diese Abspaltung ist ein unbewusster psychologischer Schutzmechanismus und verschafft dem Kind vordergründig Erleichterung, hat aber fatale Folgen für sein weiteres Leben: Schuldgefühle, die auf den abgelehnten Elternteil projiziert werden, Selbstzweifel, weil 50% der eigenen Identität mit abgelehnt werden, existenzielle Ängste, auch noch den verbliebenen Elternteil zu verlieren.. In dieser Lage bindet sich das Kind eng an den verbleibenden Elternteil und versucht, dafür zu sorgen, dass es diesem gut geht. Dabei entsteht eine Rollenumkehr, bei der das Kind die Elternrolle übernimmt. Dies erschwert die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.
Auch der ausgegrenzte Elternteil leidet. Der „Kampf ums Kind“ ist oft aussichtslos, zermürbend und sehr belastend. Die Trauer um ein verlorenes Kind, das noch lebt, führt in vielen Fällen zu Depressionen. Auf Dauer kann die Ohnmacht dazu führen, dass der Elternteil seine Bemühungen um das Kind einstellt und versucht, loszulassen. Das jedoch vermittelt dem Kind den Eindruck, dass der abgelehnte Elternteil es nicht mehr liebe. Die Ablehnung des Kindes kann sich dadurch verstärken, und gleichzeitig können Gefühle von Verlassenheit und Selbstzweifel entstehen.
Ein entfremdetes Kind liebt beide Eltern. Doch es trägt die Liebe zum ausgegrenzten Elternteil tief in seinem Herzen und hütet sie wie einen versteckten Schatz. Der Weg dahin ist verschüttet, um den Schatz vor Angriffen zu schützen.
Die Aufgabe des entfremdeten Elternteils ist es, dafür zu sorgen, dass das Kind den Weg zum Versteck wiederfindet, und ihm Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Eine Möglichkeit dafür ist „Aktives Warten“.
Aktives Warten bedeutet, dem entfremdeten Kind immer wieder Botschaften zu senden, selbst dann, wenn es keine Antworten oder sogar heftige Abwehrreaktionen gibt, oder wenn sie das betroffene Kind womöglich gar nicht erreichen.
Aktives Warten ist eine Herausforderung. Es ist wichtig, sich dabei nicht von Wut, Angst, Enttäuschung, Trauer, Ohnmacht leiten zu lassen. Es braucht vielmehr Ruhe, Gelassenheit, Beharrlichkeit und Übung, sich in das betroffene Kind einzufühlen.
Es kommt darauf an, welche Möglichkeiten Sie haben. Wenn Sie die Handynummer Ihres Kindes haben, können Sie über Messenger kurze Botschaften senden oder auch mal ein witziges Video. Wenn Sie die E-Mail- oder Postadresse kennen, können Sie Mails oder Briefe schicken. Auch eine Postkarte aus dem Urlaub ist ein gutes Signal. Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten sind ebenfalls sehr wichtig.
Wenn es gar keine Möglichkeiten mehr für einen direkten Kontakt gibt, können Sie einen Account in Sozialen Netzwerken (Instagram, Youtube, TikTok) anlegen und dort aus Ihrem Leben positive Botschaften senden. Kinder sind von Natur aus neugierig und werden diese Botschaften auch finden. Hüten Sie sich jedoch davor, das Kind oder den anderen Elternteil „bloßzustellen“.
Sie können über Ihre Erlebnisse und Ihren Alltag berichten, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse wecken, auch mal ein Foto schicken. Vermitteln Sie Ihrem Kind das Gefühl, dass Sie weiter für es da sind. Bestärken Sie Jugendliche darin, ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Ein schöner Abschluss könnte lauten: „Ich hoffe, es geht Dir gut!“
Wichtig ist, das Kind nicht mit Aufforderungen oder Erwartungen unter Druck zu setzen. Verstärken Sie nicht die Schuldgefühle, indem Sie Sehnsucht und Bedürftigkeit vermitteln. Geben Sie Ihrem Kind Sicherheit, indem Sie ihm vermitteln, dass es Ihnen gut geht. Der Kern einer jeden Botschaft sollte lauten:
Für entfremdete Elternteile ist es eine besondere emotionale Herausforderung, nicht die eigene Verletztheit im Elternstreit durchscheinen zu lassen und sich dem Kind gegenüber nicht negativ über den anderen Elternteil zu äußern. Bitten Sie, wenn möglich, jemanden mit „kühlem Kopf“, kritisch über Ihre Botschaft zu schauen.
Das ist eine Gratwanderung: Zu häufige Nachrichten können als unangenehmes „Stalking“ empfunden werden, zu seltene oder zu unregelmäßige Nachrichten können als Desinteresse gedeutet werden. Das richtige Maß lässt sich hier nicht empfehlen, u.a. spielt der Grad der Entfremdung eine Rolle und auch Ihre eigenen Kraftreserven, da für viele entfremdete Eltern diese Kommunikation nicht einfach ist. Versuchen Sie, für Ihre individuelle Situation einen „goldenen Mittelweg“ zu finden. Wichtig sind auf jeden Fall Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit.
Hilfreich kann sein, ein Netzwerk rund um das entfremdete Kind (Großeltern, Tanten, Onkel, Freunde) zu nutzen, wo das möglich ist. Diese Personen können Botschaftsüberbringer oder Vermittler eines positiven Bildes von Ihnen sein. Hierbei ist allerdings Achtsamkeit nötig. Diese Aufgabe erfordert Menschen, die in der Lage sind, sowohl zu Ihnen als auch zum Kind eine positive Beziehung zu wahren. Einerseits dürfen sie sich nicht ebenfalls gegen Sie instrumentalisieren lassen, andererseits nicht so offen für Sie Partei ergreifen, dass sie Gefahr laufen, selbst abgelehnt zu werden.
Aktives Warten ist kein Ersatz dafür, über Jugendamt, Gericht oder andere Wege den Kontakt zum Kind wiederherzustellen. Es ist eine wichtige Ergänzung dazu. Und manchmal, wenn all diese Wege gescheitert sind, bleibt es die allerletzte Möglichkeit, in Verbindung zum geliebten Kind zu bleiben. Aktives Warten ist eine Chance, irgendwann wieder den Kontakt anbahnen zu können und hilft dem Kind, den Weg zurück zu Ihnen zu finden. Und: Aktives Warten kann selbst dann sinnvoll sein, wenn die Botschaften das Kind nie erreichen. Darum: Dokumentieren Sie Ihre Botschaften durch Kopien oder Fotos, denn so können Sie eines Tages belegen, dass Sie sich um den Kontakt zu Ihrem Kind bemüht haben.